Der Jahreswechsel wird sowohl privat als auch beruflich oft als Neustart und Auftakt der Jahresplanung genutzt. Zugegeben: Ein neues Jahr bietet – zumindest mental – ein unbeschriebenes Blatt und somit die Option, alles Lästige, Vergangene hinter sich zu lassen. Immerhin jede:r zweite Erwachsene hat Neujahrsvorsätze. Die wirken zunächst oft sehr ambitioniert – das gilt für die individuellen Vorsätze als auch für die Jahresplanungssheets von Teams und Abteilungen. Hauptsache, das Ding sieht gut aus, wenn man es dem Vorstand vorstellt. Was dann am Ende davon umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt.
“Der Versuch ist der erste Schritt zum Scheitern.”
Homer Simpson
Insbesondere jetzt ploppen sie an allen Ecken und Enden auf – Ratgeber, wie man seine Neujahrsvorsätze (und Planungskonzepte) am besten umsetzt: große Ziele in kleine Schritte aufteilen, sich für kleine Erfolge belohnen, sich Gleichgesinnte suchen. Ganz vorne mit dabei: Suchen Sie sich einen Purpose! – also einen Zweck, der die eigenen Handlungen motiviert. Oder eben motivieren soll.
Das macht auf den ersten Blick Sinn. Natürlich gibt es einen Unterschied, ob ich mit dem Rauchen aufhören möchte, weil mein:e Partner:in sich das wünscht oder ob ich aus eigenem Antrieb heraus gesünder leben möchte. Aus persönlicher Erfahrung mit Zwecken, Zielen und Vorsätzen kann ich jedoch sagen: Das alleine hilft mir nicht.
Tja – vielleicht müssen wir pragmatischer an die Sache mit den Vorsätzen herangehen
Wikipedia beschreibt Pragmatismus als “ein Verhalten, das sich nach bekannten praktischen Gegebenheiten richtet, wodurch das praktische Handeln über die theoretische Vernunft gestellt wird. Im Pragmatismus beweist sich die Wahrheit einer Theorie an ihrem praktischen Erfolg, weshalb pragmatisches Handeln nicht an unveränderliche Prinzipien gebunden ist.“
Pragmatismus ist folglich die Kunst, sein Ziel und dessen Erreichung – was es auch immer sein möge – der Realität anzupassen. Wert- und Ideologiefrei. Aber seien wir mal ehrlich: Ich kenne niemanden, der von sich sagen würde, er oder sie wäre unpragmatisch. Nun ja, warum passieren um uns herum trotzdem so viele wenig pragmatische Dinge? Der Versuch einer Herleitung.
Praktisches Handeln und theoretische Vernunft
Was uns im Alltag hier und da als Pragmatismus verkauft wird, ist oft alles andere als pragmatisch. Man kennt es: Ein Raum voller wild diskutierender, fachsimpelnder Menschen im Anzug und auf einmal steht der/die Chef:in auf und sagt: “Wir lösen das jetzt pragmatisch!” Der darauf folgende Lösungsvorschlag ist jedoch oft nicht weniger als das Bauchgefühl des/der Chef:in, eine persönliche Meinung basierend auf unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen.
Was steckt dahinter?
Das Buch des israelischen Psychologen Daniel Kahneman mit dem Titel „Thinking, fast and slow“ – auf Deutsch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ist mittlerweile ein moderner Klassiker. Das Buch fasst eine langjährige, mit seinem Kollegen Amos Tversky betriebene Forschungsarbeit zusammen, die unter dem Namen „Prospect Theory“ – die sogenannte Neue Erwartungstheorie – zu einer Revolution in der Verhaltensökonomik führte. Nach dieser arbeitet das menschliche Gehirn in zwei Betriebszuständen: Modus eins ist das schnelle Denken, das von Faustregeln, sogenannten Heuristiken, ausgeht, von gemachten Erfahrungen, Prägungen und allem, was man kennt, mag und bewusst wie unbewusst für richtig hält. Weil man sich Instinkte und Emotionen, die dieses System ausmachen, nicht lange überlegen muss, geht hier alles ruck, zuck. Wirklich Neues hingegen weist das schnelle Denken von sich – zu viel Arbeit.
Demgegenüber bildet das von Kahneman sogenannte „langsame Denken“ die Ausnahme von der Regel. Diese Denkform verlangt kritisches und selbstkritisches Sammeln von Informationen, ein vernünftiges und logischen Maßgaben folgendes Einbeziehen von Alternativen, den sachlichen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Varianten – kurz: Die Auseinandersetzung mit dem richtigen Leben, das aus Vielfalt und Komplexität besteht.
Schnelles Denken fördert den Status quo
Kahneman kommt zu dem Schluss: Solange alles gut läuft, denkt der Mensch schnell und schmutzig. Wirklich ins Grübeln und Reflektieren kommen wir, wenn sich unsere Vorstellungen und die Wirklichkeit aneinander reiben, weil sie an einer Stelle nicht zusammenfinden.
Schnelles, auf Faustregeln basierendes Denken und Handeln fördert also den Status quo – und hält uns somit in der Entwicklung zurück. Das gute, alte Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht – oder eben der/die Vorgesetzte mit Kurzschlussvorschlag.
Das schnelle Denken kann uns außerdem kompromissunfähiger machen, weil ich in einer Debatte eher versuche, mein Gegenüber von meinen Vorstellungen zu überzeugen, als ein gemeinsames Ziel anzustreben. Auch hier kann eine pragmatische Betrachtungsweise helfen. Aber halt! Das mag ja für moralisch-gesellschaftliche Debatten alles zutreffend sein, aber an meinem Schreibtisch gibt es keine Dogmen!
Ach nein?
Der Purpose-Despot
Der sogenannte Corporate Purpose ist als Management-Trend nicht mehr ganz neu. Kurz gesagt geht es darum, Handeln und Existenz eines Unternehmens einen Zweck zuzuschreiben, der über die reine Gewinnmaximierung hinausgeht. Einige Beispiele:
Adidas möchte durch Sport Leben verändern und dabei eine nachhaltigere Welt schaffen.
RWE will Gestalter und Schrittmacher der grünen Energiewende sein.
McDonald’s möchte Gemeinschaften nähren und fördern.
Man kann davon halten, was man möchte. Fest steht jedoch, dass ein Purpose einen Bindungseffekt hat – sowohl nach außen, als auch nach innen. Mitarbeitende lassen sich über einen Purpose beispielsweise intrinsisch motivieren: Wer das Gefühl hat, Burger für ein engagiertes Unternehmen und einen höheren Zweck zu braten, der/die brät eben lieber, als für eine gesichtslose Organisation, die ganz offen nur ihre Profite im Sinn hat. Sagt – so ähnlich – unter anderem McKinsey.
Insbesondere bei der sogenannten Generation Z ist so ein Marken-Purpose auch bei der Auswahl von Produkten und Services relevant. Man möchte lieber bei einem Unternehmen einkaufen, mit dessen Werten man sich identifiziert.
Was für den/die eine:n vielleicht albern klingt, ist mittlerweile sogar soweit im Mainstream angekommen, dass Unternehmensberatungen ihren Kunden eine:n Chief Purpose Officer im Vorstand empfehlen.
Vor lauter Zweck(optimismus) sieht man jedoch die Probleme nicht, die Purpose-orientiertes Denken mit sich bringt. Unternehmen mit Purpose büßen enorm an Veränderungsfähigkeit ein. Und das ist nicht gut.
Stefan Kühl beschreibt in einem Beitrag für das Manager Magazin ein Finanzunternehmen, welches stark auf die Identifikation der Mitarbeitenden über einen Purpose gesetzt hatte. Das war alles soweit prima – bis es zur Fusion mit einem anderen Unternehmen kam. Viele der mit Purpose und Herzblut entwickelten Produkte und Prozesse wurden überflüssig – und die Motivation der Angestellten sackte in den Keller.
Purpose vs. Pragmatismus
Ein Purpose unterscheidet sich wenig von anderen Ideologien: Er gibt nicht nur einer Sache oder Tätigkeit einen Sinn, er gibt auf viele Fragen bereits eine Antwort vor. Wenn mein Purpose beispielsweise Nachhaltigkeit ist, dann muss ich bei Auto vs. Bahn nicht allzu lange überlegen. Möchte ich hingegen mit zwei Kindern und viel Gepäck von Berlin nach Stuttgart reisen, dann entscheide ich mich angesichts der hohen Bahnpreise und mangelnder Flexibilität vielleicht doch in diesem Fall für die pragmatischere Lösung: den Individualverkehr.
Das tatsächliche Handeln vieler Unternehmen ist jedoch – egal wie viele hübsche Purpose-Schleifchen man darum bindet – nach wie vor monetär motiviert. Viele Unternehmen entscheiden sich – trotz weitaus schlechterer Produktionsbedingungen – für Standorte in Asien statt in Europa. Hier entscheidet der/die Finanzer:in und nicht der/die Chief Purpose Officer und dann stoßen Wille und Wirklichkeit aneinander. Es kommt zum Knatsch. Ein Purpose möchte Identifikation – diese kann man nicht einfach ändern wie sein Konzernlogo. Sobald das passiert, macht sich der/die Purpose-Inhaber:in unglaubwürdig.
Oftmals leitet sich ein Purpose zudem von gesamtgesellschaftlichen Trends ab. Adidas und RWE haben Nachhaltigkeit und Klimaschutz sicher nicht einfach so in ihren Purpose aufgenommen. Andere gesellschaftliche Entwicklungen wie mehr Diversität und der Einsatz für demokratische Werte werden ebenfalls immer gern gesehen. Und auch hier: Es sind nicht umsonst Entwicklungen – sie bleiben nicht stabil. Ein Purpose muss also neue Trends mitberücksichtigen und sich wandeln. Irgendwann fällt dann auch dem/der letzten Kund:in auf, dass es sich eigentlich nur um ein Fähnchen im Wind handelt.
Fazit: Purpose und Pragmatismus vertragen sich nicht. Entscheidungen, denen Ideologien zugrunde liegen, können gefährlich, weil schlichtweg irrational sein.
Aber muss denn jede Entscheidung, die wir treffen – sei es beruflich, politisch oder privat – pragmatisch sein?
Nein. Der Mensch ist es ja auch nicht (siehe Kahneman). Der Weg zwischen Ideologie und Pragmatismus ist ein Balanceakt, der mal mehr und mal weniger gut gelingt. Ein Tipp – vielleicht auch ein Neujahrsvorsatz – könnte sein, sich öfter selbst zu hinterfragen, ob die eigene Einstellung wirklich frei von Ideologie ist und was tatsächlich hinter den eigenen Entscheidungen steckt.
Und falls ein:e Leser:in gerade zufällig über die Einstellung eines/einer Chief Purpose Officer nachdenkt, wäre meine Empfehlung, eine:n Pragmatiker:in für den Job zu suchen.
Dieser Post ist im Original als Beitrag des kibibetters im Januar 2022 erschienen.
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