Wann habt Ihr zuletzt eine Doku über Syphilis geschaut? Ich erst vergangene Woche. Aus der Reaktion meines Partners schloss ich, dass dies keine gewöhnliche Beschäftigung für einen Freitagabend zu sein schien. Aber ich hatte nicht nur eine Dokumentation über eine Geschlechtskrankheit gesehen (und dabei gelernt, dass nicht die amerikanischen Ureinwohner:innen den Europäer:innen die Syphilis angehängt haben, sondern wahrscheinlich andersherum, dass warmes Klima die Ansteckung erhöht, und dass eine Ansteckung im Kindesalter harmlos ist und ein Leben lang schützt), sondern auch viel über Jegor Letov gelesen – Gründer einer Punk-Avantgarde-Bewegung in Sibirien und Poet.

Neugier, die – Streben von Menschen oder Tieren nach Neuem und Unbekanntem

Ist das jetzt schräg? Ja, vielleicht. Zugegeben: Ich verbringe nicht jeden Freitagabend auf diese Weise. Aber ist es schlimm, sich mit Nischenthemen zu beschäftigen? Was wäre die Alternative? Ausschließlich das lesen, was alle lesen? Nur die Serien schauen, die Netflix mir vorschlägt? Und mich auch hier in diesem Newsletter nur zu den Themen äußern, über die aktuell alle sprechen?

Ich bin überzeugt, es ginge uns – als Individuum und als Gesellschaft – etwas Wertvolles verloren, wenn wir uns nicht auch ab und an mal in Nischen wagten.

Das Streben nach Aufmerksamkeit macht mittelmäßig

 

Die Autorin Ali Montag hat sich in einem Essay mit eben dieser Problematik auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss: Wer sein (kreatives) Schaffen am Geschmack der Mehrheit ausrichtet, landet früher oder später in der Mittelmäßigkeit.

Warum ist das so?

Das Internet macht es möglich, dass jede:r von uns ohne besonderes Vorwissen oder größere Investitionen zum Content Creator werden kann. Populäre Accounts auf Instagram, TikTok und Youtube sind die besten Beispiele. Viele der Creators erhoffen sich etwas: Erfolg. Idealerweise auch monetären. Dafür benötigt man Aufmerksamkeit – ein breites Publikum – und wer ein solches ansprechen möchte, der/die kann sich Ecken und Kanten nicht mehr leisten. Teilweise werden erfolgreiche Influencer mehr oder weniger direkt imitiert.

Und Algorithmen helfen fleißig dabei mit, den uniformen Content-Einheitsbrei auf die Smartphone- und Computerbildschirme der Welt zu verteilen. Rebecca Jennings hat die Problematik für Vox sehr gut auf den Punkt gebracht (frei übersetzt aus dem Englischen):

“Was wir sehen, ist der kleinste gemeinsame Nenner von dem, was Menschen sehen wollen, appelliert an unsere niedersten Impulse … Das Ergebnis ist, nun ja, mittelmäßig.“

Popularität schlägt Einfallsreichtum.

Und das gleiche gilt auch für aufwändig produzierte Inhalte wie beispielsweise Filme. John Logan, Drehbuch-Autor der James-Bond-Filme, berichtet darüber in der New York Times (frei übersetzt aus dem Englischen):

„Meiner Erfahrung nach passiert Folgendes mit Filmen, wenn [kommerzielle] Bedenken beginnen, in den kreativen Prozess einzudringen: Alles wird zur harmlosesten und am leichtesten konsumierbaren Version seiner selbst verwässert. Der Film wird zu einem harmlosen Schatten einer Sache. Es gibt keine Ecken und Kanten oder filmischen Wahnsinnsflüge mehr. Das Feuer und die Leidenschaft erlöschen allmählich, wenn originelle Ideen und Stimmen von kommerziellen Bedenken, Unternehmensaufsicht und Umfragedaten subsumiert werden.“

Rewilding Your Attention – aus der Monokultur wieder einen Urwald machen

 

Versteht mich bitte nicht falsch – sich ausschließlich mit Nischenthemen zu beschäftigen hat auch Nachteile. Vor allem soziale. Wer, wie ich, als Teenager lieber Biografien über Rudi Dutschke gelesen hat anstatt Deutschland sucht den Superstar zu schauen, war auf der Beliebtheitsskala nicht besonders weit oben angesiedelt. Wir Menschen sind nun mal soziale Wesen. Und um soziale Bindungen zu knüpfen, bedarf es gemeinsamer Themen. Es gibt Gründe, weshalb sich das Klischee hartnäckig hält, dass wer in deutschen Unternehmen aufsteigen möchte, am besten samstags die Sportschau gucken sollte. Und ja – leicht verdaulicher Content hat auch etwas Angenehmes.

Aber: ausschließlich das zu konsumieren, was gerade alle konsumieren, macht langweilig. Nur den Vorschlägen von Algorithmen zu folgen, die denken, wir mögen nur Batman, schnelle Nudelrezepte und Katzenvideos, macht uns nicht kreativer. Es stimuliert nicht.

Ich bin in diesem Zusammenhang über den folgenden Twitter-Post gestolpert:

Er ist Teil eines längeren Threads und bezieht sich ebenfalls auf den bereits erwähnten Artikel von Ali Montag. Ich mochte insbesondere die Vorstellung, des “rewilding” der eigenen Aufmerksamkeit. Vor lauter Marktführer (Amazon, Spotify, Instagram, Youtube, Netflix, etc.), die uns mit vermeintlich neuen, oft dennoch gleichförmigen Vorschlägen überschütten, kann man vergessen, dass das Internet eigentlich ein Ort voller spannender Nischen ist!

Ich erinnere mich dann an meine Kindheit und Jugend auf dem Dorf. Wenn man sich weder fürs Reiten noch für Fußball, den Schützenverein oder die freiwillige Feuerwehr interessiert, werden die Tage manchmal sehr lang. Ich bin dann des Öfteren recht umständlich mit dem Bus in die Wolfsburger Stadtbibliothek gefahren, um mir Bücher über Themen auszuleihen, die ansonsten in meinem Kosmos nicht vorkamen (besagte Rudi Dutschke Biografie z.B.) – oder um einfach nur zu stöbern.

Heutzutage geht das alles einfacher: Ich klappe meinen Laptop auf, gebe einen Suchbegriff ein und dann kann ich mich theoretisch stundenlang durch die Untiefen des World Wide Web wühlen. Dabei obliegt es uns, ob das Internet eine gleichförmige Monokultur, errechnet von Big-Tech-Algorithmen ist, oder ein Urwald, den wir uns selber kultivieren.

Wenn man sich, so wie ich, des Öfteren in einer freien Minute durch die Foren von passionierten Segler:innen, Subsistenzwirtschaftler:innen oder Schafzüchter:innen gräbt, kommt man nicht umhin sich zu fragen, wo man derart schrullige Leute eigentlich im echten Leben findet.

Überraschung: Häufig im ganz unmittelbaren Umfeld. Wir erfahren es nur leider viel zu selten. Erst vor ein paar Wochen saß ich mit ehemaligen Kolleg:innen beim Lunch zusammen. Das Gespräch fiel auf einen Kollegen, der in seiner Freizeit professionell Frisbee spielt und seit neustem auch noch sein Team coacht. Frisbee-Coach? Schon irgendwie kurios. Anschließend musste reihum jede:r von uns sein oder ihr schrägstes Hobby präsentieren und siehe da: Nahezu jede:r hat nischige Themen, die ihn oder sie umtreiben. Und das ist schön! Ich habe alle Anwesenden von einer anderen Seite kennengelernt und gleichzeitig spannende Themen erfahren, mit denen ich mich an einem künftigen Freitagabend mal beschäftigen kann. Ja – auch Du bist mehr als Deine Netflix-Historie. Lass es Dir nicht nehmen.

 

Abseits von SEO & Co.

 

Mit diesem doch recht poetischen Schluss hätte ich es für diese Ausgabe belassen können. Ich möchte allerdings nicht schließen, ohne noch den ein oder anderen Tipp zu teilen, wie man sich seine Nischen im WWW am besten erschließen kann. Denn das ist Arbeit – Nischen muss man aktiv suchen.

Zu erst einmal: Neugierig bleiben! Man muss sich nicht für alles oder jedes absurd klingende Thema interessieren. Aber wenigstens mal reinzulesen schadet in den meisten Fällen nicht. Vielleicht führt es uns ja über Umwege zu einer anderen Sache, die wir wirklich mögen?

 

RSS-Reader

Wer RSS noch nicht (oder nicht mehr) kennt, dahinter verbirgt sich die Möglichkeit, Blogs und diversen anderen Online-Veröffentlichungen automatisch zu folgen. Die Quellen, denen man folgen möchte, muss man zwar selber suchen, sobald man sie gefunden hat, erhält man jedoch regelmäßige Updates und muss sich nicht daran erinnern, immer mal wieder nachzuschauen. Persönlich empfehlen kann ich Feedly und Fraidycat.

 

Offline stöbern

Etwas, was man in unserer auf Effizienz getrimmten Gesellschaft ohnehin viel zu selten macht, ist stöbern. Gerade offline kann man Eindrücke ganz anders auf sich wirken lassen und sich im positivsten Sinne vom Alltag entkoppeln. Ich persönlich schätze Antiquariate oder Bibliotheken und verschwinde gerne mal für ein paar Stunden in mongolischem Kunsthandwerk. Zum Stöbern gut geeignet sind ebenfalls Bücher mit ausgeprägtem Literaturverzeichnis. Querverweise sind die Freunde der Nischen-Suchenden – egal ob online oder offline. Ein besonders gutes analoges Exemplar ist das Werk Ideen von Peter Watson.

 

Foren

Oben hatte ich sie schon erwähnt: Foren. Als Hort für Verschwörungstheoretiker:innen in Verruf geraten, können sie aber auch eine Ansammlung von passionierten Exptert:innen auf den unterschiedlichsten Sachgebieten sein. Querverweise und Literaturtipps tummeln sich dort ebenfalls.

 

Marginalia & Forgotify

Ich hatte mal ein sehr schönes Schlecht-Wetter-Date: mein Partner und ich haben einen Abend lang Musik auf Forgotify gehört – eine Plattform, die nur Spotify-Tracks listet, die noch kein Mal abgespielt wurden. Sobald ihr einen Song länger als 30 Sekunden hört, verschwindet er von der Plattform. Vieles ist – nun ja – gewöhnungsbedürftig. Aber es können ein paar interessante Perlen dabei sein und ein unterhaltsamer Zeitvertreib ist es allemal.

Marginalia ist eine Suchmaschine, die den Anspruch hat, zu überraschen. SEO-optimierte Websites mit einem eleganten, modernen Design werden aktiv herabgestuft und textlastige Seiten und persönliche Websites hochgestuft. Hier findet ihr Seiten, die für gewöhnlich sehr viel weiter entfernt liegen, als die Seite zwei von Google-Search.

Smalltalk überwinden

 

Mein abschließender und eigentlich auch sehr naheliegender Tipp ist das Gespräch mit Leuten zu suchen. Je unterschiedlicher die persönlichen Hintergründe, desto besser. Nicht nur mit Bekannten, auch mit Freund:innen verfällt man irgendwann in eine Phase, in der man denkt, nichts neues mehr über diese Person erfahren zu können. Wieso eigentlich nicht? Vielleicht mal nach dem kuriosesten Hobby/Film/Buch/Song/Erlebnis fragen?

Bleibt neugierig.

Dieser Post ist im Original als Beitrag des kibibetters im Mai 2022 erschienen.